Zur Frage der Appoggiaturen in Webers "Freischütz":
Zeitgenössische Theorie und musikalische Praxis, erläutert am Beispiel der Szene und Arie der Agathe Nr. 8, Teil 2:
Appoggiaturen und andere Besonderheiten der Nr. 8 in Aufnahmen des Archivs der Stimmen der SLUB Dresden
Von Mitra Behpoori, Maya Sampson, Sebastian Schlicht und Joachim Veit
(Version 1.0, © 15. Dezember 2017)
Vorbemerkung
Nachfolgend sind jeweils einzelne Auszüge aus dem Notentext der Singstimme der Nr. 8 aufgeführt. Angezeigt wird als Variante 1 die notierte Fassung, wenn Variante 2 angewählt wird, erscheint die vorgeschlagene Appoggiatur in ausgeschriebener Form. Über diesen Notenzeilen sind jeweils Klangbeispiele aus dem Archiv der Stimmen der SLUB aufgeführt. Bitte wählen Sie jeweils den sichtbaren Schalter "Abspielen", um nur den jeweiligen Ausschnitt zu hören (im anderen Falle wird das Abspielen der Aufnahme fortgesetzt und erst beim Reload der Seite zurückgesetzt). Hinweis: Der Aufbau der Seite braucht aufgrund der erst beim Aufruf erzeugten Notenbeispiele etwas Zeit (es kann bis zu einer Minute dauern)!
Trotz der erfreulichen Sammlung von historischen Aufnahmen im "Archiv der Stimmen" ist die Zahl der Beispiele doch zu gering, um wirklich Tendenzen aufzeigen zu können, zumal viele Aufnahmen die Arie nur stark gekürzt wiedergeben. Auch fehlt oft eine verlässliche Datierung. Daher sind die folgenden Klangbeispiele eher Illustration von beobachteten Fällen als Beleg für eine temporäre oder regionale Praxis. Insbesondere im Bereich der Binnenappoggiaturen lässt sich die Fülle der von Heinrich Dorn angegebenen Ausführungsvorschläge kaum nachvollziehen, denn nur in sehr ausgewählter Weise sind von Dorn angegebenen Appoggiatur-Möglichkeiten genutzt. Selbst wenn man bei einigen Sängerinnen den Eindruck hat, dass sie den Litolff-Klavierauszug benutzten (wie etwa an der auch von Dorn gutgeheißenen Textänderung: "Wie schön die Nacht" zu beobachten), sind auch die dort notierten Appoggiaturen nicht durchgängig verwendet.
Appoggiatur-Beispiele
Abschnitt 1 (Takt 2-5):
Die Anwendung einer Appoggiatur bei der ersten kleineren Binnenzäsur in T. 3 ist in den Beispielen eher die Ausnahme; Beispiel 1 bleibt ohne, Beispiel 2 ist Appoggiatur ausgeführt:
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 3: ohne Appoggiatur (Variante 1) | Interpretin: Trude Eipperle, Orchester des Deutschen Opernhauses Berlin, Dirigent: Gerhard Steeger; Datierung: 1942 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70919748.html |
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Takt 3: mit Appoggiatur (Variante 2) | Interpretin: Hermine Bosetti, Dirigent: August Pilz; Datierung: vor 1925 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70912761.html |
Abschnitt 2 (Takt 22-24):
In diesem Falle reichen die Interpretationen vom Missverständnis als kurzer Vorschlag über nahezu gleichwertige 16-tel bis hin zur extremen Dehnung beider letzter Noten.
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 22: sehr kurzer Vorschlag | Interpretin: Ema Destinnová, Dirigent: Friedrich Kark; Datierung: vor 1925 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70912305.html |
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Takt 22: kurzer Vorschlag | Interpretin: Elsa Oehme-Foerster, Dirigent: Fritz Zweig, Ensemble: Staatsoper unter den Linden; Datierung um 1930.
Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70923142.html |
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Takt 22: kurzer Vorschlag | Interpretin: Lotte Lehmann, Dirigent: Frieder Weissmann, Staatsoper unter der Linden; Datierung: 26. Februar 1929.
Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70925694.html |
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Takt 22: Richtung gleiche Dauern (erste kürzer) | Interpretin: Delia Reinhardt, Staatsoper Berlin, Dirigent: Georg Sebastian; Datierung: 1929 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70919320.html |
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Takt 22: gleichwertig, gedehnt | Interpretin: Tiana Lemnitz, Staatsoper Berlin, Mitglieder der Kapelle der Staatsoper Berlin; Dirigient: Leo Blech; Datierung: 18. Januar 1935 Link siehe auch: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70922414.html, dort auf 1939 datiert |
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Takt 22: erste Note gedehnt | Interpretin: Elisabeth (Böhm) van Endert; Datierung: vor 1925 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70924250.html |
Abschnitt 3a (Takt 29-32):
Unmittelbar anschließend in T. 31 wenden die meisten Interpretinnen gleichlange Notenwerte an. Es gibt aber auch Ausnahmen (vgl. die ersten beiden der folgenden Beispiele):
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 31: kurzer Vorschlag | Interpretin: Claire Dux; Datierung: vor 1925 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70918885.html |
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Takt 31: kurzer Vorschlag | Interpretin: Anny Schlemm, Dirigent: Ferdinand Leitner, Bamberger Symphoniker; Datierung: 1954 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70920144.html |
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Takt 31: gleiche Länge | Interpretin: Margarete König; Dirigent: Friedrich Kark; Datierung: vor 1925 http://mediathek.slub-dresden.de/ton70913272.html |
Abschnitt 3b (Takt 55-58):
Die Parallelstelle "Engelscharen" wird meist so ausgeführt wie T. 31f., dabei erlauben sich die Sängerinnen teils große agogische Freiheiten:
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 56: Vorschlag kurz | Interpretin: Erna Denera, Dirigent: Friedrich Kark; Datierung: ca. Januar 1911, Berlin Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70911995.html |
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Takt 56: Vorschlag kurz | Interpretin: Claire Dux; Datierung: vor 1925, Köln http://mediathek.slub-dresden.de/ton70918885.html |
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Takt 56: gleichlang, gedehnt | Interpretin: Ema Destinová; Datierung: um 1927 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70911523.html |
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Takt 56: aus dem Tempo genommen, Nachschläge gleichlang | Interpretin: Trude Eipperle, Orchester des Deutschen Opernhauses Berlin, Dirigent: Gerhard Steeger; Datierung: 19. Februar 1942 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70919748.html |
Abschnitt 4 (Takt 35-41):
Die meisten Interpretinnen wenden in diesem Abschnitt keine Appoggiatur an, teils werden einzelne angewendet, nur in einem Falle beide; zugleich finden sich extreme Tempodifferenzen:
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 35-38 ohne Appoggiatur | Interpretin: Claire Dux; Datierung: vor 1925, Köln http://mediathek.slub-dresden.de/ton70918885.html |
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Takt 35–38: ohne App. | Interpretin: Tiana Lemnitz, Staatskapelle Berlin, Dirigent: Leo Blech; Datierung: ca. 18. Januar 1935 | |
Takt 35–38: 1x App. (a) | Interpretin: Erna Denera, Dirigent: Friedrich Kark; Datierung: ca. Januar 1911, Berlin Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70911995.html |
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Takt 35–38: 2x App. | Interpretin: Elisabeth Rethberg, Metropolitan Opera House New York; Datierung: o.D. | |
Takt 35–38: 1x App. (b) | Interpretin: Delia Reinhardt, Staatsoper Berlin, Dirigent: Georg Sebastian; Datierung: 1929 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70919320.html |
Abschnitt 5 (Takt 71-74):
In den Beispielen findet sich nur in einem Fall die Anwendung einer Appoggiatur (bei der zweiten Stelle):
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 73 und 74 ohne Appoggiatur | Interpretin: Marcella Roeseler; Datierung: vor 1925 http://mediathek.slub-dresden.de/ton70918947.html |
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Takt 73 und 74 ohne Appoggiatur | Interpretin: Delia Reinhardt, Staatsoper Berlin, Dirigent: Georg Sebastian; Datierung: 1929 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70919320.html |
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nur Takt 74 mit Appoggiatur ("Grille") | Interpretin: Elisabeth (Böhm) van Endert; Datierung: vor 1925 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70924250.html |
Abschnitt 6 (Takt 79-81):
Zu diesen Appoggiaturen fanden sich im Archiv keine Beispiele einer Umsetzung.
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 79 und 80 ohne Appoggiatur | Interpretin: Marcella Roeseler; Datierung: vor 1925 http://mediathek.slub-dresden.de/ton70918947.html |
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Takt 73 und 74 ohne Appoggiatur | Interpretin: Delia Reinhardt, Staatsoper Berlin, Dirigent: Georg Sebastian; Datierung: 1929 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70919320.html |
Abschnitt 7 (Takt 103-105):
Wiederum findet sich die Anwendung einer Appoggiatur nur bei wenigen Interpretinnen
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 35–38: ohne Appogiatur | Interpretin: Tiana Lemnitz, Staatskapelle Berlin, Dirigent: Leo Blech; Datierung: ca. 18. Januar 1935 | |
Takt 103-105 ohne Appoggiatur | Interpretin: Marcella Roeseler; Datierung: vor 1925 http://mediathek.slub-dresden.de/ton70918947.html |
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Takt 103-105 ohne Appoggiatur | Interpretin: Elsa Oehme-Foerster, Dirigent: Fritz Zweig, Ensemble: Staatsoper unter den Linden; Datierung um 1930.
Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70923142.html |
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Takt 103-105 ohne Appoggiatur | Interpretin: Maria Jeritza; Datierung: 1913, Berlin Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70912180.html |
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Takt 103-105 mit Appoggiatur | Interpretin: Anny Schlemm, Bamberger Symphoniker, Dirigent: Ferdinand Leitner; Datierung: 1954 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70920144.html |
Abschnitt 8 (Takt 141-145):
Auch hier wird die Appoggiatur nur im Ausnahmefall angewendet:
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 143 und 145 ohne Appoggiatur | Interpretin: Marcella Roeseler; Datierung: vor 1925 http://mediathek.slub-dresden.de/ton70918947.html |
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Takt 143 und 145 ohne Appoggiatur | Interpretin: Delia Reinhardt, Staatsoper Berlin, Dirigent: Georg Sebastian; Datierung: 1929 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70919320.html |
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Takt 143 und 145 mit Appoggiatur | Interpretin: Elisabeth (Böhm) van Endert; Datierung: vor 1925 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70924250.html |
Abschnitt 9 (Takt 158-161):
Sehr starke Unterschiede finden sich hier in der Ausdeutung des Rhythmus: Frieda Schmidt, die ansonsten die Appoggiaturen oft wie in der Litolff-Ausgabe übernimmt, erlaubt sich hier eine völlig freie rhythmische Ausgestaltung des Textes; so auch noch Delia Reinhardt.
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 161 mit Viertelvorschlag, nachfolgende zur Halben gekürzt | Interpretin: Anny Schlemm; Dirigent: Ferdinand Leitner; Bamberger Symphoniker; Datierung: 1954.
Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70920144.html |
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Takt 161 beide ersten Noten lang | Interpretin: Elsa Oehme-Foerster, Dirigent: Fritz Zweig, Orchester: Staatsoper Unter den Linden Orchester; Datierung: um 1930 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70923142.html |
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Takt 161 außerhalb des Metrums | Interpretin: Delia Reinhardt, Staatsoper Berlin, Dirigent: Georg Sebastian; Datierung: 1929 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70919320.html |
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Takt 161 völlig außerhalb des Metrums | Interpretin: Frieda Schmidt, Dirigent: Friedrich Kark; Datierung: Mai 1911 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70913541.html |
Abschnitt 10 (Takt 170-171):
Auch hier gehört die Anwendung einer Appoggiatur zu den Ausnahmefällen.
Audio (SLUB Dresden) | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 171 mit Appoggiatur | Interpretin: Marcella Roeseler; Datierung: vor 1925 http://mediathek.slub-dresden.de/ton70918947.html |
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Takt 171 ohne Appoggiatur | Interpretin: Anny Schlemm, Dirigent: Ferdinand Leitner, Bamberger Symphoniker; Datierung: 1954.
Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70920144.html |
Sonstige Interpretationsbesonderheiten
Im Anschluss an die Appoggiaturbeispiele folgt hier noch ein weiteres Beispiel, das Textunterschiede und unterschiedliche Zäsuren der Sängerinnen betrifft und eine der von Heinrich Dorn angesprochenen Stellen durch Klangbeispiele illustriert:
Die Textänderung "Wie schön die Nacht!" (die sich z.B. im Litolff-Auszug findet) führt dazu, dass in der Regel vor den beiden letzten Worten geatmet und das Tempo so gewählt wird, dass der Atem bis dahin ausreicht. Nur Tiana Lemnitz nimmt die Phrase auch mit diesem neuen Text auf einen Atem. Wird der Originaltext "Welch' schöne Nacht!" verwendet, bemühen sich die Sängerinnen in der Regel, ein Atmen vor den letzten beiden Silben zu vermeiden. Das gilt auch für die Aufnahme von Ema Destinnová vor 1925 (mit Friedrich Kark), während sie in der späteren Aufnahme (ohne Angabe eines Dirigenten) den Text sogar zu "So schön die Nacht" ändert.
Audio | Takt/Information | Beschreibung |
Takt 13: Wie schön die Nacht | (Marcella) Datierung: nach 1925 | |
Takt 13: Wie schön die Nacht | Interpretin: Claire Dux; Datierung: vor 1925, Köln http://mediathek.slub-dresden.de/ton70918885.html |
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Takt 13: Wie schön die Nacht (durchgesungen) | Interpretin: Tiana Lemnitz, Staatskapelle Berlin, Dirigent: Leo Blech; Datierung: ca. 18. Januar 1935 | |
Takt 13: Wie schön die Nacht | Interpretin: Maria Jeritza; Datierung: 1913, Berlin Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70912180.html |
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Takt 13: Welch schöne Nacht | Interpretin: Hilde Konetzni, Orchester des Deutschen Opernhauses, Berlin, Dirigent: Hans Schmidt-Isserstedt; Datierung: 1937 | |
Takt 13: Welch schöne Nacht (durchgesungen) | Interpretin: Trude Eipperle, Orchester des Deutschen Opernhauses Berlin, Dirigent: Gerhard Steeger; Datierung: 19. Februar 1942 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70919748.html |
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Takt 13: Welch schöne Nacht | Interpretin: Ema Destinnová, Dirigent: Friedrich Kark; Datierung: vor 1925 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70912305.html |
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Takt 13: So schön die Nacht | Interpretin: Ema Destinnová; Datierung: um 1927 Link: http://mediathek.slub-dresden.de/ton70911523.html |
Hinweis
Weitere Klangbeispiele zur Nr. 8 finden sich im Demonstrator "SynchroPlayer".