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1. Aufgabenstellung

Ausgangspunkt des Projekts Freischütz Digital war die Idee, die seit etwa 15 Jahren zu beobachtenden Entwicklungen auf dem Gebiet der digitalen Musikedition und die Bemühungen um die Etablierung eines für die Wissenschaft tauglichen, leistungsfähigen Codierungsstandards zum Anlass zu nehmen, um beide Bereiche in eine fruchtbare Verbindung zu bringen und an einem umfangreicheren und zugleich exzeptionell dokumentierten Werk der Musikgeschichte die Vorteile einer solchen Verbindung zu demonstrieren. Zugleich sollte beispielhaft aufgezeigt werden, in welche Richtung die bisherigen Ansätze weiterentwickelt werden müssten, um die gegenwärtig der Konzeption und Umsetzung genuin digitaler Editionskonzepte entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen. Schließlich sollten durch die Wahl der Projektpartner erstmals nicht nur die graphische, sondern auch die logische und die akustische (bzw. performative) Domäne eines Musikwerkes in einem solchen Vorhaben berücksichtigt und die Vorteile einer expliziten Verbindung dieser Bereiche demonstriert werden. Dabei lag ein besonderes Augenmerk auf der Nachnutzbarkeit der Daten und Ergebnisse sowie auf der Dokumentation des Forschungsprozesses, um deutlich zu machen, dass der Ausbau digitaler Musikeditionen wesentlich mit dem Ausbau von Datenstandards und fachgebietsübergreifenden Kooperationen zusammenhängt.

Im Anschluss an ein von Frans Wiering entworfenes Multidimensional Model genuin digitaler Musikeditionen galt es, mit Carl Maria von Webers wirkungsmächtigem und von den Zeitgenossen als Gründungsdokument einer Nationaloper gefeiertem dreiaktigem Singspiel Der Freischütz (Uraufführung Juni 1821) eine Art proof of concept sowohl für neuartige Editionsmethoden als auch die damit verbundenen neuen Fragestellungen zu liefern und den Codierungsstandard der Music Encoding Initiative (MEI) erstmals an einem derart umfangreichen und von den Anforderungen an die Codierung vielseitigen Werk zu erproben. Dieses Werk bot zudem den Vorteil, dass auch die Verbindung von Musik und Wort in mehrfacher Hinsicht einbezogen werden konnte: einerseits in der einfachen Form des unterlegten Gesangstextes, zum anderen durch die gesprochenen Anteile innerhalb der Musik (Melodramtexte) bzw. die Dialogteile zwischen den Musiknummern, und schließlich auch durch vielfältige, auf das Werk oder sein Libretto bezogene externe Texte.

Ein wichtiges Kriterium für den Erfolg des Projekts war die Frage, ob sich die divergierenden und mit unterschiedlichen Standards arbeitenden Teilgebiete mit gegenseitigem Nutzen in einem solchen Gesamtprojekt zusammenführen lassen.

2. Voraussetzungen, unter denen das Vorhaben durchgeführt wurde

Für die zu bearbeitenden Bereiche konnten drei Projektpartner mit spezifischen Schwerpunkten verpflichtet werden (vgl. dazu die Rubrik Institutionen). An der Universität Frankfurt waren mit dem Projekt OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen erste Erfahrungen im Bereich von Hybrideditionen und speziell der Implementierung der Textsorte Libretto in Operneditionen vorhanden. Damit war dort bereits der Schritt zu einer „komplementären Darstellung der beiden für das Musiktheater konstitutiven Medien“ vollzogen. Durch die Verwendung von TEI lagen auch schon Erfahrungen mit der Codierung von Libretti vor. Ferner verfügte Prof. Dr. Meinard Müller von der Universität Erlangen über langjährige Erfahrungen im Bereich digitale Signalverarbeitung und automatisierte Musikdatenerschließung. Schon während seiner Tätigkeit an der Universität des Saarlandes und dem dortigen Max-Planck-Institut für Informatik hatte er eine Nachwuchsgruppe Multimedia Information Retrieval & Music Processing geleitet und sich seit seiner Habilschrift intensiv mit unterschiedlichen Szenarien und Aspekten der Musiksynchronisation auseinandergesetzt.

Weiterhin konnten durch eine Kooperation mit der Hochschule für Musik Detmold und mit den Tonmeistern des Erich-Thienhaus-Instituts ideale Voraussetzungen für die Produktion von vielfältig nachnutzbaren Tonaufnahmen dreier Nummern des Freischütz geschaffen werden. Außerdem stand dem Projekt mit Dr. Raffaele Viglianti (London bzw. später Washington) ein auf die Verbindung von TEI- und MEI-Daten spezialisierter Wissenschaftler beratend und zwischenzeitlich auch durch Werkverträge aktiv mitarbeitend zur Verfügung.

Ideale Voraussetzungen bestanden auch hinsichtlich der Quellenbasis: Da die analoge Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe (WeGA) parallel zu dem Projekt die Arbeiten an der Edition der Printedition des Freischütz durchführte, konnten sämtliche Informationen zu den Quellen von dort abgerufen und auch unmittelbar auf die von der WeGA digital publizierten Briefe, Tagebücher und Schriften dieser erst 2016 erscheinenden Edition zurückgegriffen werden. Sogar die Digitalisate bzw. Mikrofilme der musikalischen Quellen standen für FreiDi zur Einsicht zur Verfügung, mussten aber im Laufe der Arbeiten meist durch hochwertigere Digitalisate ersetzt werden. Schließlich profitierte FreiDi auch von der Erstellung von Anmerkungstexten, Quellenbeschreibungen und dem Ausbau des Bestands an Aufführungsbesprechungen innerhalb der WeGA, ebenso selbstverständlich von der gemeinsamen Erörterung schwieriger editorischer Probleme.

Personell standen dem Projekt während der 36 Monate Laufzeit am Standort Detmold/Paderborn zwei Wissenschaftliche Mitarbeiterstellen und eine Qualifikationsstelle (50%), in Frankfurt zwei Qualifikationsstellen (50%) und in Erlangen eine Mitarbeiterstelle zur Qualifikation (100%) zur Verfügung. Dabei konnten zu Beginn in DT/PB erfahrene Mitarbeiter des früheren Edirom-Projekts gewonnen werden (Dipl.Wirt-Inf. Daniel Röwenstrunk als Informatiker, Dr. Johannes Kepper und Benjamin W. Bohl M.A. als Musikwissenschaftler mit einschlägigen Qualifikationen im digitalen Bereich), in Frankfurt zunächst eine Mitarbeiterin mit Erfahrungen im OPERA-Projekt (Janette Seuffert M.A.) und später eine weitere mit Erfahrungen in der Weber-Philologie (Dr. Solveig Schreiter) sowie in Erlangen mit Thomas Prätzlich M.S. ein Mitarbeiter, der bereits über eingehende Erfahrungen im Bereich der Klangsegmentierung verfügte. Damit startete das Projekt mit einem hochqualifizierten Mitarbeiterstab; allerdings konnte in Frankfurt (aufgrund der Verzögerungen durch den zu Beginn des Projekts notwendigen Projekttransfer von der zunächst geplanten Arbeitsstelle an der Universität Bayreuth zur Universität Frankfurt am Main) und der damit verbundenen Einstellungsfristen erst im Februar 2013 Personal eingestellt werden. In Detmold/Paderborn verließen im letzten Drittel des Projektverlaufs drei der Mitarbeiter das Vorhaben, so dass in der letzten Phase Vakanzen bzw. Einarbeitungszeiten für neues Personal die Umsetzung des kompletten Katalogs an avisierten Zielen verhinderten. Trotz dieser personellen Probleme konnte andererseits dank einer weiteren Beratung und außerordentlich großzügigen Unterstützung des Projekts durch die ausgeschiedenen Mitarbeiter (darunter D. Röwenstrunk weiterhin als Projektleiter) die Kontinuität der Arbeiten gesichert werden.

Vorteilhaft wirkte sich die bereits vor Projektbeginn bestehende Einbindung der Mitarbeiter in internationale Standardisierungsaktivitäten der Text Encoding Initiative TEI und speziell der Music Encoding Initiative MEI aus, ebenso die Verbindung zu den Verbundprojekten TextGrid bzw. DARIAH-DE. Mit TextGrid wurde vor Beginn des Projekts eine Vereinbarung getroffen, dass die erarbeiteten frei zugänglichen Daten auch im TextGrid Repository veröffentlicht werden sollten. Innerhalb von DARIAH wurde der MEI-Score-Editor weiterentwickelt, dessen Verwendung als Kontrollinstrument zu Anfang auch im FreiDi-Projekt vorgesehen war (damals noch in der Vorgängerversion bei TextGrid). In DT/PB waren zudem weitere Mitarbeiter der digitalen Forschungsprojekte am Hause im TEI Technical Council bzw. im MEI Council tätig, so dass hier ein reger Austausch mit dieser Community vorauszusehen war.

3. Planung und Ablauf des Vorhabens

Für das Projekt waren sechs Arbeitspakete vorgesehen (vgl. Menüpunkt Arbeitspakete). Schon beim Kick-off-Meeting in Detmold Anfang Oktober 2012, bei dem bereits die Einspielung mit der HfM Detmold detaillierter besprochen wurde, war festgehalten worden, dass über die ursprüngliche Konzeption und die vorgesehenen Konsortialtreffen zur strategischen und inhaltlichen Planung hinaus eine enge Abstimmung zwischen den Partnern und teils auch zwischen Untergruppen notwendig sein würde. Zu diesem Zweck wurde als Kommunikationstool ein Redmine-System einschließlich Wiki angelegt, in dem auch die einzelnen Arbeitspakete mit Vermerk der Institutionen-übergreifenden Zusammenarbeit zur fortlaufenden Dokumentation verzeichnet wurden. Ferner wurden ein Bereich auf dem Paderborner Server für den Zugriff auch der externen Projektpartner, ein Subversion-System und ein Bereich in GitHub sowie eine Mailingliste eingerichtet. Frühzeitig umgesetzt wurde eine eigene Projekt-Website, die später auch einen internen Bereich erhielt, um gemeinsam Entwicklungen testen zu können. Zudem wurden in einem festgelegten Turnus virtuelle Treffen eingeplant, die für einen kontinuierlichen Austausch sorgen sollten. Diese interne Kommunikation und der Kontakt zu weiteren wichtigen Personen im Umkreis des Projekts (Perry Roland von der MEI-Community, den Mitarbeitern der Weber-Gesamtausgabe, Laurent Pugin als Entwickler von Verovio u.a.m.) erwies sich für den Fortschritt des Projekts als essentiell. Der große Vorteil des gemeinsam gepflegten Redmine-Systems machte sich bereits in der ersten Phase der Zusammenarbeit bemerkbar; im Nachhinein wurde oft bedauert, dass viele Abläufe und Diskussionen nicht noch ausführlicher dort dokumentiert worden waren. Auch für die detailliertere Arbeitsplanung und Absprachen erwies sich das System als äußerst nützlich.

AP- und Institutionen übergreifende Zusammenarbeit fand u.a. statt im Bereich der Libretto-Codierung, der Topic Maps, der beiden Core-Konzepte, der Audio-Aufnahmen, der Konzeption eines SyncPlayers, der diplomatischen Darstellung der TEI-Texte, der Probleme der Musik-Codierung und Apparatgestaltung sowie bei der umfangreichen Dokumentation.

Kick-off-Meeting, Konsortialtreffen, Dissertationsprojekte

Insgesamt fanden nach dem Kick-off-Meeting fünf weitere Konsortialtreffen in ca. halbjährlichem Abstand statt, die jeweils für die weitere Planung und die Koordinierung der Arbeitsschritte benutzt werden konnten. Bei diesen Treffen wurden auch die aktive oder passive Teilnahme an Tagungen und Konferenzen und Publikationsvorhaben abgestimmt. Wie an der Liste der Publikationen und Vorträge zu erkennen ist, haben sich alle Projektbeteiligten sehr intensiv und mit Erfolg um eine Vermittlung der Forschungsansätze und Ergebnisse in die nationale und internationale wissenschaftliche Community bemüht. Auch im darüber hinausgehenden Bereich der Nachwuchsqualifizierung wirkte das Projekt erfolgreich: Die in enger Verbindung mit dem Projekt von Raffaele Viglianti am King’s College London erarbeitete Dissertation zu digitalen Aspekten der Musikedition am Beispiel von Weber’s Freischütz konnte im Oktober 2014 eingereicht werden; das Promotionsvorhaben von Thomas Prätzlich in Erlangen, das sich mit der Entwicklung und Auswertung automatisierter Verfahren von Audiodaten beschäftigt und sich dabei wesentlich auf die Audioaufnahmen im Freischütz-Projekt stützen kann, wird 2016 abgeschlossen. In Detmold/Paderborn wird Anfang 2016 eine Masterarbeit zu den Problemen der Codierung von Aufführungsvarianten in der Wiener Partiturhandschrift des Freischütz in Angriff genommen.

Projektphase 1

In der ersten Projektphase standen im Audio-Bereich die Beschaffung und Digitalisierung von Tonaufnahmen, die Einspielung von drei ausgewählten Nummern der Oper und die Vorbereitung der Synchronisation von Codierung und Tonaufnahmen im Mittelpunkt. In Frankfurt lag der Schwerpunkt auf der Codierung unterschiedlicher Fassungen des Librettos sowie ausgewählter Stoffvorlagen und in der Entwicklung von Konzepten für die Erfassung textgenetischer Varianten gemeinsam mit Raffaele Viglianti. In DT/PB waren neben der Vorbereitung der Einspielung in umfangreicher Weise Digitalisate zu beschaffen und aufzubereiten, gemeinsam mit R. Viglianti erste Codierungskonzepte zu entwickeln und bei der Codierung des Autographs anzuwenden. Außerdem mussten Anpassungen und Erweiterungen der Präsentationssoftware vorgenommen werden (Integration von Audio und Texten).

Projektphase 2/3

Im Verlauf des zweiten und im dritten Projektabschnitt brachten die erwähnten Umbesetzungen und Vakanzen erwartungsgemäß spürbare Verzögerungen mit sich, zumal sich gezeigt hatte, dass gerade die einzige im Projekt vorhandene Informatikerstelle (die zugleich die Projektleitung innehatte) auch die technischen Fragen im Rahmen der Textedition mitbetreuen musste, um ein schlüssiges Gesamtkonzept im Auge zu behalten und Verzögerungen durch nicht ausreichende technische Expertise in den Teilprojekten zu vermeiden. Darüber hinaus führten die unerwartet komplexen Probleme bei der erstmaligen Codierung eines derart umfangreichen Musikwerkes in MEI – zumal bei der hier angestrebten Erschließungstiefe keinerlei Erfahrungswerte vorlagen – zu weiteren Verzögerungen, die sich nicht erst durch den Weggang des Codierungsexperten Kepper bemerkbar machten. Insbesondere die notwendige Kontrolle der umfangreichen Codierungen erforderte, wie im Kontext der Arbeitspakete näher beschrieben, eine ganze Reihe zusätzlicher Maßnahmen, darunter die Entwicklung von speziellen Korrekturlese-Werkzeugen. Da zu erwarten war, dass diese im Rahmen des Projekts konzipierten und implementierten Werkzeuge zur Bearbeitung der MEI-Codierungen für weitere Projekte der Community von Interesse sind und sich nach der Sichtung sämtlicher musikalischer Quellen bzw. einer Abschätzung der zu erwartenden Erkenntnisse bei der zu Beginn geplanten vollständigen Codierung aller Quellen herausstellte, dass diese Zielsetzung dem Projektziel einer paradigmatischen Behandlung des Gegenstandes nicht dienlich wäre, wurde eine Fokussierung auf jene Quellenmaterialien beschlossen, die aufgrund ihrer Relevanz für eine Umsetzung des digitalen Editionskonzepts von Bedeutung waren. Damit konnten verstärkt Kapazitäten in die generische Entwicklung des Codierungsmodells und der einschlägigen Werkzeuge verlagert werden. Eine Verschiebung dieses Teilziels des Projekts erschien im Sinne der Nachnutzbarkeit durch Dritte vorrangig und tangierte das übergeordnete Projektziel nicht – vielmehr war zu erwarten, dass diese Verlagerung den Modellcharakter der Projektergebnisse sogar hervorheben würde.

Vorgesehen für den repräsentativen Querschnitt durch die Manuskripte wurden dann naheliegenderweise jene Nummern, die die HfM Detmold eingespielt hatte (Nr. 6, 8, 9) und die hierfür bereits unter vergleichbaren Gesichtspunkten ausgewählt worden waren. Dennoch wurde an dem (dann auch verwirklichten) Ziel, zumindest die autographe Partitur Webers in einer vollständigen Codierung vorzulegen, festgehalten – einerseits, um eine Basis für weitere Forschungen zu schaffen, andererseits um grundlegende Codierungsprobleme eines derart umfangreichen Gesamtkorpus zu ermitteln. Es zeigte sich, dass diese Entscheidung sinnvoll war, denn immer wieder traten in einzelnen Nummern der Oper spezifische Probleme auf, die deutlich machten, wie häufig Vorannahmen über die generelle Angemessenheit von einmal festgelegten Codierungformen zu revidieren sind. Auf der anderen Seite blieb die strukturelle Codierung aller Quellen bis zur Ebene der Takte ohnehin ein unverzichtbares Ziel als Voraussetzung jeglicher Kollationierungsarbeit und wurde für alle Quellen umgesetzt.

Die Zeitplanungen waren im zweiten Projektjahr an diese veränderten Rahmenbedingungen angepasst worden. Im letzten Projektjahr wurden zwar durch die steigenden Anforderungen aus dem Bereich der Textedition (insbesondere was die Umsetzung von Konzepten zur Textdarstellung und -auswertung betraf) und die eingeschränktere Expertise der neuen Mitarbeiter in DT/PB Verzögerungen bei der Verwirklichung der geplanten Ziele spürbar, die entstehenden Probleme waren jedoch vorwiegend gegenstandsspezifischer Art. Sowohl bei der technischen Umsetzung im Bereich der Text- als auch der Musikedition zeigte sich die Problematik generischer Lösungsversuche bei einem Gegenstand, der sich Tendenzen zur „Vereinheitlichung“ widersetzt. Es genügt nicht, die Codierungen auf einem Abstraktionsbereich vorzunehmen, der die Detailprobleme übergeht.

Die Vielfalt der zu berücksichtigenden Probleme im musikalischen Bereich zeigte sich aber erst im Versuch der Bewältigung eines erstmals so großen Textkorpus (die Codierung des Autographs der Oper umfasst bereits deutlich über eine Million Zeilen Code bzw. etwa 100 MB XML mit mehr als 200.000 Verlinkungen). Auch der Versuch, durch räumliche Beschränkungen auf Ausschnitte wiederkehrende Muster des Gesamtwerks abzudecken, erwies sich als nur bedingt aussagefähig, da immer wieder unerwartete Varianten zu berücksichtigen waren, die im gewählten Ausschnitt nicht zutage treten, für eine konsistente Lösung aber in der Codierung berücksichtigt werden müssen – Vergleichbares galt für den Versuch, generell gültige Lösungen für die Umsetzung textgenetischer Prozesse zu finden. Vor diesem Hintergrund können weder im Textbereich die in den verschiedenen Demonstratoren gefundenen Lösungen noch im Musikbereich die vollständige Umsetzung der ausgewählten drei Nummern bzw. die Codierung des gesamten Autographs als dauerhaft gültige Musterlösungen betrachtet werden, sondern wird das in AP 3.1 entwickelte Modell kontinuierlich weiterentwickelt werden müssen. Zudem erwies sich das schon betagte Problem überlappender Hierarchien gerade bei der Beschreibung der genetischen Aspekte der Texte als folgenreich für alle Versuche möglichst generischer technischer Lösungen. Konsequent wurde daher im dritten Projektjahr die exemplarische Umsetzung von Konzepten an eingeschränkten Beispielen in Verbindung mit einer detaillierten Beschreibung (in den sogenannten „Demonstratoren“) angestrebt, jedoch stets auch die Übertragung dieser Konzepte auf größere Einheiten erprobt, um im Rahmen der ausführlichen Dokumentation entsprechende Anregungen vermitteln zu können. Eine komplette Umsetzung dieser Lösungen für alle Daten hätte das Zeitbudget des Projekts erheblich überschritten, die Daten sind jedoch so aufbereitet und werden sowohl über TextGrid als auch GitHub der breiteren Community zur Verfügung gestellt, dass hier weitere Arbeiten unmittelbar anknüpfen können.

Weitere Probleme und Ergebnisse

Die Codierungsarbeiten an den Libretto- und Referenztexten konnten wie vorgesehen abgeschlossen werden, ebenso im Musikbereich die Codierung jener Nummern, die nach der Korrektur des Konzepts als repräsentativer Querschnitt durch die Manuskripte vorgesehen waren (vgl. AP 1.3). Dabei war die Anwendung der entwickelten Korrekturwerkzeuge von Anfang an – deutlicher als zunächst erwartet – mit der Notwendigkeit editorischer Entscheidungen verknüpft, so dass hier, wie erwähnt, eine Zusammenführung von AP 1.3 mit AP 3.2 beschlossen wurde. Eine entsprechende Umstellung des Workflows erwies sich rasch als effizienter, so dass die weitere Planung angepasst wurde.

Das frühzeitig entwickelte Core-Konzept (das sich von dem von Raffaele Viglianti entwickelten Core-Konzept im Bereich der Libretto-Überlieferung trotz gleicher inhaltlicher Zielsetzung durch die Unterschiede von Text und Musik technisch deutlich unterscheidet) konnte anschließend am Beispiel der drei ausgewählten Nummern in seiner Leistungsfähigkeit und hinsichtlich seiner Praktikabilität geprüft werden. Gerade diese Schritte trugen dazu bei, Probleme in den teils noch sehr offenen Datenstrukturen von MEI offenzulegen und erforderten die Herstellung zahlreicher Transformationsskripte, um strukturelle Unstimmigkeiten aufzufinden und im umzusetzenden Korpus zu beseitigen. Vielfältige Erfahrungen wurden dabei auch mit der Konversion von Daten in das MEI-Format sowie mit der Berücksichtigung stillschweigend weitergeltender takt-, system- oder seitenübergreifender Definitionen gesammelt, die vor allem die Handhabung der variierend umfangreichen Auszüge der Codierung im Rendering erheblich erschweren.

Die Evaluierung von Darstellungsbibliotheken für MEI (MEISE, VexFlow, abcjs u.a.) hatte während der Codierungsarbeiten dazu geführt, dass für die Programmierung der Korrekturlesewerkzeuge schlichtere, aber relativ robuste ältere Bibliotheken – wie z.B. im sog. Pitch-Tool das abcjs-Format – verwendet wurden. Im Jahr 2014 hatte sich aber die von Laurent Pugin konzipierte und von der MEI-Community unterstützte Verovio-Bibliothek in so rascher und vorteilhafter Weise entwickelt, dass für die letzte Projektphase eine Integration dieser Bibliothek für die in unterschiedlichen Kontexten notwendige Anzeige der Daten (teils auch innerhalb der Korrekturwerkzeuge) als empfehlenswert angesehen und umgesetzt wurde. Zwar kann Verovio etliche Parameter der codierten Texte momentan noch nicht anzeigen, angesichts eines geradezu erstaunlichen Zuwachses an Features im Verlauf der letzten Monate erwies sich aber auch diese Entscheidung als zukunftsweisend. Dennoch sei davor gewarnt, die Verovio-Darstellung mit einem „Edierten Text“ analoger Editionen zu vergleichen – es fehlen zur Zeit nicht nur die Voraussetzungen zur Darstellung bestimmter Details, sondern das Rendering übernimmt hier andere Funktionen, vor allem im Hinblick auf die Visualisierung oder Verknüpfung ausgewählter Informationen. Verovio schafft damit die Voraussetzungen für einen neuartigen und hochflexiblen Umgang mit den Daten der logischen Domäne im Bildschirmmedium, bietet dem Editor aber andererseits auf absehbare Zeit keinen qualitativ hochwertigen (und analog verwendbaren) Notensatz. Dennoch ist absehbar, dass hieran anknüpfend – aber in separaten Projekten – Lösungen erarbeitet werden können.

Eine ähnliche Entscheidung betraf den verwendeten Bildserver zur Anzeige der Faksimiles. Experimente mit der Javascript-Library Leaflet waren so vielversprechend, dass dem bislang verwendeten Digilib eine auf Leaflet aufbauende Alternative gegenübergestellt wurde. Diese Alternative ermöglicht in den musikalischen Annotationen auch eine Anzeige der Varianten in gerendeter Form – ein entsprechender Prototyp wurde erstellt, die Ende 2015 veröffentlichte Anzeige basiert aber noch auf Digilib, bezieht allerdings neben den Digitalisaten von Quellenexzerpten auch ein Rendering der betroffenen Stellen (jeweils eines isolierten Systems) mit ein. Eine Umstellung der Projektergebnisse auf die neue Anzeigelösung wird im Anschluss an das Projekt angestrebt.

Innerhalb der letzten Projektphase konnte außerdem der Beweis dafür erbracht werden, dass ein in den Textwissenschaften übliches Kollationsverfahren (wofür dort z.B. die Software juxta oder collateX im Einsatz ist) in abgewandelter Form auch auf die höchst komplexen musikalischen Daten angewendet werden kann. Prototypisch wurden auf der Basis des "Core-Konzepts in den Nummern 6, 8 und 9 der Oper automatisiert Apparateinträge mit entsprechenden readings der acht Handschriften und des Partiturerstdrucks erzeugt und sogar nach Kategorien geordnet. Selbstverständlich ist dies nur die Voraussetzung für eine Bewertung der aufgezeigten Unterschiede durch den Fachwissenschaftler, dennoch ließen sich auch aus diesem Verfahren wertvolle Hinweise auf Spezifika musikalischer Strukturen und für die Notwendigkeiten von Codierungsrichtlinien gewinnen.

Verwirklicht wurde ferner eine Integration von Audio-Elementen in die Präsentationssoftware im Rahmen des AP 2.4. Über die Umsetzung eines schlichten Audio-Players hinausgehend wurde innerhalb eines Audio-Demonstrators ein sog. Sync-Player entwickelt, der Audio-Aufnahmen und Digitalisate bzw. gerenderten Notentext parallelisiert und zugleich das nahezu unterbrechungsfreie Umschalten zwischen verschiedenen Aufnahmen des gleichen Satzes erlaubt. Damit sind zugleich die Voraussetzungen für einen vereinfachten Interpretationsvergleich geschaffen worden. Schließlich konnte in der Schlussphase auch noch der Aspekt der Nutzerinteraktion (AP 5) durch die Evaluierung und Implementierung des Annotationstools annotator.js in Kombination mit AnnotateIt berücksichtigt werden. Die nachgelagerten Forschungsaspekte zum Thema Varianz in AP 6 sind einerseits in bisherigen Tagungs- und schriftlichen Beiträgen in ersten Ansätzen berücksichtigt, eine weitere Demonstration der durch die Materialien und ihre Präsentation geschaffenen Forschungsmöglichkeiten erfolgt aber erst im Anschluss an die Förderphase und wird in Form von Beiträgen u.a. für die Projektwebsite (wie z. Zt. bereits mit dem Beitrag von Th. Betzwieser zur Freischütz-Einspielung des Dirigenten Eugen Jochum) umgesetzt. In Erlangen werden wesentliche Ergebnisse der während und im unmittelbaren Anschluss an das Projekt durchgeführten Forschungen zur synchronisationsbasierten zeitlichen und spektralen Segmentierung von Tonaufnahmen in der Dissertation von Thomas Prätzlich veröffentlicht; auch dort sind aber weitere Auswertungen der Materialien geplant.

4. Kurzes Fazit zum Projektverlauf

Vor allem in der letzten Phase des Projekts, in der die Arbeiten an einer gemeinsamen Präsentationsplattform und an den Demonstratoren im Mittelpunkt standen, zeigte sich, dass im Projektantrag für diese weitgehend kooperativen Tätigkeiten zu wenig Raum bzw. Finanzvolumen eingeplant worden war. Rückblickend hätten sich gerade innerhalb des letzten Jahres die Förderung mehrerer Programmiersprint-artiger längerer gemeinsamer Arbeitsphasen an einem Ort empfohlen, um die notwendigen Abstimmungen und Einpassungen der jeweiligen Ergebnisse in das Gesamtkonzept in effektiv-zielführender Weise umzusetzen und dabei das, was jetzt in den Demonstratoren gezeigt wird, in stärkerem Maße über das Prototypische hinaus auch praktisch umzusetzen und zu erweitern. Die Notwendigkeit solcher mehrtägigen klausurtagungsähnlichen Zusammenkünfte sollte in künftigen vergleichbaren Vorhaben von Anfang an mit bedacht werden. Zugleich scheint für den Erfolg solcher Forschungsprojekte selbstverständlich eine Kontinuität in der Beschäftigung von Personal förderlicher als der hier im letzten Drittel erfolgte Wechsel mit den damit verbundenen Einarbeitungszeiten. Angesichts der beklagenswerten Personalpolitik im Bereich der Drittmittelstellen ist der wissenschaftliche Nachwuchs aber darauf angewiesen, jederzeit zum Wechsel in länger laufende Projekte bereit zu sein. Umso deutlicher ist aber hervorzuheben, dass auch die aus dem Projekt vorzeitig ausgeschiedenen Mitarbeiter ein außerordentlich hohes Verantwortungsbewusstsein zeigten, indem sie das Projekt bis zum Abschluss der Förderphase aktiv begleiteten und ihre Verantwortung auch im Hinblick auf die Langfristsicherung der Projektergebnisse nach wie vor wahrnehmen. Insofern kann also hier trotz der Widrigkeiten, mit denen ein solcher erster Versuch immer verbunden ist, von einem insgesamt sehr erfolgreichen Projekt gesprochen werden, das die Diskussionen über künftige digitale Editionsformen im Musikbereich mit Sicherheit beflügeln dürfte und die Notwendigkeit einer intensiveren Kollaboration zwischen Geisteswissenschaften und Informatik nachdrücklich unterstreicht.

5. Zusammenarbeit mit anderen Stellen

Eine enge Zusammenarbeit erfolgte während der gesamten Laufzeit mit dem MEI-Technical-Team, dem Hauptentwickler von MEI (Perry Roland, University of Virginia), mit dem Entwickler von Verovio, Laurent Pugin (RISM Schweiz), und mit der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe an den Standorten Staatsbibliothek zu Berlin und Musikwissenschaftliches Seminar Detmold/Paderborn. In der letzten Projektphase gabe es außerdem einen regelmäßigen Austausch mit dem Zentrum Musik – Edition – Medien (Universität Paderborn, Hochschule für Musik Detmold, Hochschule Ostwestfalen-Lippe), dem Akademieprojekt Beethovens Werkstatt und dem DFG-Projekt Entwicklung eines MEI- und TEI-basierten Modells kontextueller Tiefenerschließung von Musikalienbeständen am Beispiel des Detmolder Hoftheaters im 19. Jahrhundert, da in allen dreien der Codierungsstandard MEI eine wesentliche Rolle spielt und im letztgenannten in spezifischer Weise auch das FRBR-Modell.

Mit der Hochschule für Musik Detmold und dem Tonmeister-Institut der Hochschule (Erich-Thienhaus-Institut) wurde während der Produktions- und Bearbeitungsphase der Audio-Aufnahmen für das Projekt eng kooperiert. Im Hinblick auf die spektrale Segmentierung im Audio-Bereich fand eine Zusammenarbeit mit Antoine Liutkus vom Institut INRIA – Inventors for the Digital World in Nancy statt.